Sportpsychologische Transferforschung beim VfB Stuttgart: Ein Versuch von Forschung und Praxis, kognitiven Diagnostiken „auf den Grund zu gehen“
Chair(s): Oliver Höner (Universität Tübingen, Deutschland), Thomas Krücken (VfB Stuttgart AG)
Die Sportpsychologie hat im letzten Jahrzehnt in der Arbeit der Nachwuchsleistungszentren (LZ) in Deutschland enorm an Bedeutung gewonnen und ist zumindest formal über die Zertifizierung durch die Deutsche Fußball Liga GmbH (DFL) fest verankert. Am LZ des VfB Stuttgart wird die Sportpsychologie bereits seit 2015 über eine Kooperation mit dem Lehrstuhl Sportpsychologie und Forschungsmethoden des Instituts für Sportwissenschaft der Universität Tübingen realisiert. Im Rahmen dieser Kooperation wird die Betreuung aktuell über Sportpsycholog:innen vor Ort in Form diverser Maßnahmen in der Praxis umgesetzt, z. B. über sportpsychologische Workshops, Teambetreuungen, individuelle Betreuungen von Spielern oder auch die Bereitstellung eines Vermittlungskonzepts (potenziell) klinisch-relevanter Fälle.
Des Weiteren bietet die Kooperation Möglichkeiten, anwendungsorientierte Forschung im Feld des LZ zu initiieren. Die auf modernen Technologien aufbauende Diagnostik von im weiteren Sinne kognitiven Leistungsfaktoren (z. B. fußballspezifische Entscheidungs- und perzeptuell-kognitive Fähigkeiten, unspezifische Kognitionen wie exekutive Funktionen) stellen ein hochaktuelles Forschungsthema dar und werden auch aus Sicht der Praxis am LZ des VfB Stuttgart als verheißungsvoll angesehen. Kognitiven Faktoren wird ein enormes Entwicklungspotenzial zugeschrieben, zugleich versprechen neue Technologien in diesem Zusammenhang attraktive Diagnostiken und Trainingsmethoden. Andererseits ist die theoretische und v.a. empirische Fundierung noch unzureichend (z. B. Beavan et al., 2020; Kalén et al., 2021), zumal häufig das Tempo der Forschung mit dem Tempo technologischer Neuentwicklungen nicht mithalten kann.
In diesem Transfersymposium werden drei Projekte mit Bezug zu kognitiven Diagnostiken mittels neuer Technologien vorgestellt. Die drei Projekte adressieren unterschiedliche Fragen der aktuellen sportpsychologischen Diskussion (Entwicklung und Validierung, Vergleich verschiedener Diagnostiken, Herausforderungen in der Anwendbarkeit und Nutzen für die Praxis), Entwicklungsphasen (von Grundlagen- bis Profibereich) sowie Stellen des Transfers zwischen den Polen Wissenschaft und Praxis. Die Erkenntnisse und Potenziale dieser drei Beiträge sollen im Anschluss an die Einzelpräsentationen übergreifend hinsichtlich empirischer Erkenntnis sowie Fragen der Implementierung in ein LZ bzw. den Lizenzspielerbereich diskutiert werden.
Beiträge des Arbeitskreises
Fußballspezifischer Entscheidungstest mit 360°-Videos: Validierung einer kognitiven Diagnostik
Oliver Höner1, Damir Dugandzic2, Thomas Hauser2, Michael Stügelmaier3, Nico Willig3, Florian Schultz1
1Universität Tübingen, 2DFB-Akademie, 3VfB Stuttgart AG
Kognitive Skills wie die Entscheidungskompetenz gelten als wichtige Talentfaktoren im Fußball (Williams et al., 2020), zu deren Diagnostik bzw. Training hochwertige Technologien entwickelt worden sind. Die prognostische Validität kognitiver Diagnostiken (Kalén et al., 2021) oder das Transferpotenzial von Entscheidungstraining (Kittel et al., 2021; Zentgraf et al., 2017) sind allerdings nur unzureichend empirisch belegt. Ziel dieser im Auftrag der DFB-Akademie in Kooperation mit dem LZ des VfB Stuttgart durchgeführten Studie war die diagnostische und prognostische Validierung eines Entscheidungstests, in dem mithilfe eines Head-Mounted-Displays (HMD) fußballspezifische 360°-Videos aus der Perspektive eines zentralen Mittelfeldspielers präsentiert wurden. Der Validierung lagen die Annahmen zugrunde, dass Alter, Leistungsniveau sowie zukünftiger Erfolg jeweils positiv mit den Testleistungen assoziiert sind.
Studienteilnehmer waren N = 48 Nachwuchsspieler, die sich in einem balancierten 2x2 Design in der Saison 2018/2019 zwei Altersstufen (U19, U17) sowie Leistungsniveaus (Junioren-Bundesliga, Bezirksliga) zuordnen ließen. Ihnen wurden 54 Videos von wettkampfnahen 6 vs. 6 Spielszenen gezeigt, die nach Zuspiel zum zentralen Mittelfeldspieler abbrachen. Die Spieler wurden anschließend gefragt, wie sie den Angriff fortführen würden. Als abhängige Variable diente der Prozentsatz richtiger Entscheidungen über alle Spielszenen (Split-Half-Reliabilität r = .78). Zur Operationalisierung des Erfolgs im Erwachsenenalter wurde für die N = 24 Junioren-Bundesliga-Spieler die Ligazugehörigkeit ("Liga 1-4" vs. "Liga 5 oder niedriger") in der Saison 2021/2022 erhoben. Der Einfluss von Altersstufe und Leistungsniveau wurde aufgrund der gerichteten Hypothesen einseitig mittels ANOVA getestet, während die prognostische Validität wegen geringer Fallzahlen mittels U-Test untersucht wurde.
Die Nachwuchsspieler entschieden zu M = 63.93% ± 10,15% richtig, was für ein generelles Verständnis der Videos spricht. Hinsichtlich der diagnostischen Validität zeigten sich erwartungskonform zugunsten der leistungsstärkeren und älteren Spieler signifikante Haupteffekte für Leistungsniveau (F[1,44] = 18.07, p ˂ .001, Eta² = .29) und Altersgruppe (F[1,44] = 7.04, p ˂ .01, Eta² = .14). Der Interaktionsfaktor war nicht signifikant (F[1,44] = 0.12, p = .73). Bezüglich der prognostischen Validität erreichten zukünftig erfolgreichere Spieler bessere Entscheidungsleistungen (U = 42.00, Z = -1.72, p < .05, r = .35). Eine zur Analyse der Sensitivität und Spezifität erstellte ROC-Kurve sowie der zugehörige signifikante AUC (p < .05; LL CI (90 %) = .52) zeigten, dass die korrekte Zuordnung zu den Leistungsstufen der Erwachsenen mit einer Wahrscheinlichkeit von 71% möglich ist.
Die Studie bietet vielversprechende Befunde hinsichtlich Reliabilität, diagnostischer und prognostischer Validität. Die kleine Stichprobe ist einerseits eine Limitierung. Andererseits stellt sie für die prognosebezogene Fragestellung eine Stärke dar, da die Teilstichprobe der Junioren-Bundesligaspieler relativ homogen und leistungsstark ist und die Sensitivität der Diagnostik besonders gefordert wird. Studienbegleitend erfolgte eine Prozessevaluation über Spielerinterviews, die die Akzeptanz der Diagnostik unterstrich. Neben zahlreichen positiven Rückmeldungen benannten die Nachwuchsspieler auch Vorschläge zur Optimierung (bspw. Hinzufügen weiterer Spielszenen und auditiver Information).
Zusammenhang und Trennschärfe zwischen bereichsspezifischen und generischen kognitiven Diagnostiken im Nachwuchsfußball
Martin Leo Reinhard1, Daniel Teufel2, Victoria Vochatzer1, Daniel Brinkmann3, Oliver Höner1
1Universität Tübingen, 2VfB Stuttgart AG, 3DFB-Akademie
Aus sportpsychologischer Sicht werden kognitive Aspekte als potenzielle Prädiktoren für Talente im Fußball angesehen. Die Beziehung zwischen bereichsspezifischen und generischen kognitiven Tests und ihre Nützlichkeit für die Talentidentifikation sind umstritten (Kalén et al., 2021). Zeitgleich werden existierende Diagnostiken in der Praxis eingesetzt. Ziele dieser Studie sind 1.) den Zusammenhang zwischen drei in der Fußballpraxis verwendeten bereichsspezifischen bzw. generischen kognitiven Diagnostiken zu explorieren und 2.) das Ausmaß zu untersuchen, in dem diese Tests zwischen Altersgruppen und Leistungsniveaus differenzieren.
Nachwuchsfußballspieler (N = 110) aus dem Grundlagen- und Aufbaubereich (Altersgruppen U11 bis U15) aus dem LZ des VfB Stuttgart sowie der Nachwuchsabteilung eines Amateur-Partnervereins absolvierten drei Diagnostiken. Als generische kognitive Tests wurden der Determinationstest des Wiener Testsystems zur Messung der reaktiven Stresstoleranz (bspw. Beavan et al., 2020) und BrainsFirst (vier Tests zur Beurteilung des Arbeitsgedächtnisses, der Antizipation, der Kontrolle und der Aufmerksamkeit) verwendet. Zusätzlich wurde ein fußballspezifischer Entscheidungstest mit 360°-Videos durchgeführt (vgl. Beitrag 1 des Transfersymposiums). Die Gesamtergebnisse der einzelnen Tests wurden z-transformiert und ergaben sechs abhängige Maße (fünf für generische und eine für bereichspezifische Kognitionen). Es wurden partielle Korrelationen unter Berücksichtigung des Alters und eine zweifaktorielle multivariate Varianzanalyse (MANOVA) durchgeführt.
Die Korrelationen zwischen dem fußballspezifischen Entscheidungstest und den generischen kognitiven Maßen reichten von .12 ≤ r ≤ .47, innerhalb der generischen kognitiven Maße von .22 ≤ r ≤ .67. Die Ergebnisse der zweifaktoriellen MANOVA zeigen einen signifikanten Haupteffekt der Altersgruppe (p < .001, Eta² = .188) und des Leistungsniveau (p < .001, Eta² = .568) sowie eine signifikante Interaktion (p < .001, Eta² = .126). Es ergaben sich vier signifikante Haupteffekte des Alters auf die generischen kognitiven Testergebnisse (p < .05, .116 ≤ Eta² ≤ .362) und ein signifikanter Haupteffekt des Alters beim fußballspezifischen Entscheidungstest (p < .001, Etap² = .389). Hinsichtlich des Leistungsniveaus der Spieler wurden vier signifikante Haupteffekte auf generische kognitive Maße (p < .05, .042 ≤ Eta² ≤ .432) und ein signifikanter Haupteffekt für den fußballspezifischen Entscheidungstest (p < .001, Eta² = .258) festgestellt.
Die vorliegende Studie liefert weitere Befunde, die den Zusammenhang zwischen fußballspezifischer und generischer kognitiver Diagnostik zeigen und zusätzlich auf einen begrenzten Wert des Determinationstest für die Talentidentifikation hinweisen. Sowohl fußballspezifische Entscheidungstests mit 360°-Videos als auch BrainsFirst scheinen das Potenzial zu haben, zwischen den Leistungsniveaus und Altersgruppen zu differenzieren.
„Ist das Diagnostik oder kann das weg?“ – Chancen und Herausforderungen psychologischer Diagnostik im Profifußball
Dino Poimann, Martin Leo Reinhard
VfB Stuttgart AG
Durch das Voranschreiten der Forschungsergebnisse und damit einhergehenden Relevanz kognitiver Leistungsfaktoren (d.h. exekutive Funktionen, Entscheidungshandeln, Vororientierung) im Leistungssport allgemein und im Fußball im Speziellen (Kalén et al., 2021) treten auch immer mehr Anbieter auf den Markt (Harris et al., 2018), welche mit dem Siegel der „Wissenschaftlichkeit“ ihre Diagnostik-Tools anpreisen. Dabei scheinen die publizierten wissenschaftliche Erkenntnisse mit dem Tempo der Entwicklung neuer Technologien nicht standhalten zu können. Entsprechend stellt die Auswahl geeigneter sportpsychologischer, und insbesondere kognitiver, Diagnostiken eine große Herausforderung für die praktisch arbeitenden Sportpsycholog:innen im Leistungssport, insbesondere auch im Profifußball dar.
Anhand der praktischen sportpsychologischen Arbeit im Lizenzspielerbereich des VfB Stuttgart stellt dieser Beitrag die Chancen und Herausforderungen in der Auswahl und Nutzung passender kognitiver Diagnostiken im Profibereich dar – diese werden dabei insbesondere in Bezug auf die in Beitrag 1 und 2 betrachteten Diagnostiken (Determinationstest, Brains First, Entscheidungstest mit 360° Videos) und der Nutzung innovativer Technologien thematisiert. Neben wissenschaftlichen Kriterien (bspw. Reliabilität, Validität) ist auch eine hohe Praktikabilität für das „Setting“ des Leistungssports und Akzeptanz bei Spieler:innen und Trainer:innen für eine gewinnbringende Anwendung notwendig (Beckmann & Kellmann, 2003). Entsprechend gilt es neben der Praktikabilität (z.B. zeitliche, finanzielle Kosten) und dem erwartbaren mittel- und langfristigen Erkenntnisgewinn auch die kurzfristige Nutzung der Ergebnisse für sportliche Weiterentwicklung der Spieler und direkte Leistungsverbesserung (Effektivität und Effizienz) zu berücksichtigen. Dies beinhaltet auch Überlegungen zur Anpassung von Diagnostiken im Sinne der Praktikabilitäts-Wissenschafts-Abwägung, befindet sich sportpsychologische Diagnostik doch stets in „Konkurrenz“ zu teils etablierteren Diagnostiken anderer Fachdisziplinen.
Vor diesem Hintergrund soll auf den Mehrwert interdisziplinärer Zusammenarbeit eingegangen werden und am Beispiel von ‚resilienter Kognition‘ (Keegan, 2017; Walton et al., 2018) sowie einem ‚Return-to-Play / Return-to-Perform‘-Protokolls dargestellt werden. Zuletzt werden ebenfalls Chancen (z. B. klarer Aufgabenbereich) und Herausforderungen (bspw. Reduzierung auf reinen Leistungsbeurteiler und -optimierer) diskutiert, die für Sportpsycholog:innen mit der Rolle als „Diagnostiker“ im Profifußball einhergehen.